Es ist eine der widerlichsten Formen von Populismus, die derzeit wieder aufblüht: Die Behauptung, Millionen Menschen im Bürgergeld wollten schlicht nicht arbeiten. Die CDU um Merz, Linnemann und Spahn instrumentalisiert dieses Narrativ – als moralische Kampfansage an die vermeintlich „Faulen“, tatsächlich aber als Ablenkungsmanöver vom eigenen Versagen und von den echten Herausforderungen auf unserem Arbeitsmarkt.
Die Fakten erzählen eine andere Geschichte.
Arbeitslosigkeit und Bürgergeld – die realen Zahlen
In Deutschland sind aktuell rund 2,9 bis 3,0 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Sie stehen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, bewerben sich aktiv und wollen arbeiten.
Parallel dazu beziehen etwa 5,3 bis 5,5 Millionen Menschen Bürgergeld. Von ihnen gelten rund 3,9 Millionen als erwerbsfähig. Doch nur etwa 1,7 bis 2,0 Millionen sind tatsächlich arbeitslos gemeldet. Der Rest befindet sich in Sprachkursen, Qualifizierungsmaßnahmen, betreut Kinder, pflegt Angehörige, ist gesundheitlich eingeschränkt – oder arbeitet bereits, muss aber wegen zu niedriger Einkommen aufstocken.
Die Behauptung, Bürgergeld sei gleichbedeutend mit „Arbeitsverweigerung“, ist schlicht falsch.
Geflüchtete im System
Besonders deutlich wird das beim Blick auf Geflüchtete. Rund 1,2 Millionen Menschen aus der Ukraine leben in Deutschland, davon über 500.000 im Bürgergeld-System. Ihre Erwerbsquote liegt bei etwa einem Drittel.
Dass nicht alle sofort arbeiten können, liegt nicht an fehlendem Willen. Es sind systemische Hürden:
- Sprachbarrieren (ohne B1-Kurs kaum Jobchancen),
- fehlende Anerkennung von Berufsabschlüssen,
- nicht verfügbare Kita-Plätze.
Es ist also nicht Faulheit, sondern ein strukturelles Versagen, das Integration erschwert.
Was die Haushaltszahlen wirklich zeigen
Ein Blick in den Bundeshaushalt bringt zusätzliche Klarheit:
- Bürgergeldzahlungen 2023: 47,102 Mrd. Euro
- Bürgergeldzahlungen 2024: 46,923 Mrd. Euro
- Bürgergeldzahlungen 2025: 46,901 Mrd. Euro
In diesen Beträgen sind die Leistungen für Geflüchtete bereits enthalten. Der Gesamtetat dieser Kostenstelle, also inklusive Verwaltungs- und Personalkosten der Bundesagentur für Arbeit, beläuft sich auf 58,2 Mrd. Euro.
Zum Vergleich: Allein die Kranken- und Pflegeversicherung summiert sich auf rund 735,6 Mrd. Euro.
Wer also nur die schlagzeilenträchtigen Einzelposten zitiert, verzerrt bewusst das Gesamtbild. Jeder kann sich davon selbst überzeugen – die Haushaltszahlen sind online einsehbar.
Noch wichtiger ist jedoch die Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP):
- 2010 betrugen die Ausgaben für die damalige „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ noch 1,8 % des BIP.
- 2024 liegt dieser Anteil nur noch bei 1,3 % des BIP.
Insgesamt sind die Sozialausgaben zwischen 2010 und 2024 von 5,8 % auf 4,1 % des BIP gesunken. Der Löwenanteil entfällt heute – wie damals – auf Gesundheit, Rente und Pflege.
Das bedeutet: Zuwanderung führt in der Mehrzahl der Fälle zur Arbeitsaufnahme, trägt langfristig zum System bei und stabilisiert es finanziell. Das Bürgergeld ist weder ein „Kosten-Tsunami“ noch ein „Anreiz zur Faulheit“ – es ist ein Instrument, das gezielt wirkt und in Relation zum Gesamtetat sogar an Gewicht verloren hat.
Der brutale Arbeitsmarkt-Rechenfehler
Zählt man zusammen – Arbeitslose, erwerbsfähige Bürgergeldempfänger und Geflüchtete mit Arbeitswillen – suchen 4,5 bis 5 Millionen Menschen nach einer Perspektive. Dem stehen rund 630.000 gemeldete Stellen bei der BA gegenüber, insgesamt maximal 1,1 bis 1,2 Millionen offene Jobs.
Das Ergebnis: Millionen Menschen bleiben chancenlos, selbst wenn sie arbeiten wollen. Und: Die meisten offenen Stellen sind Fachkraftpositionen – für die man Jahre an Ausbildung und Erfahrung benötigt. Sie lassen sich nicht durch Sanktionen besetzen.
Das CDU-Narrativ: Härter sanktionieren
Die CDU fordert dennoch schärfere Sanktionen. Friedrich Merz sprach sogar von „Sanktionen bis zur Nulllinie“. Gemeint sind die sogenannten „Totalverweigerer“. Doch deren Zahl liegt bei gerade einmal 16.000 Menschen – das entspricht 0,4 Prozent der erwerbsfähigen Bürgergeldbeziehenden.
Selbst wenn man alle morgen zwingen würde zu arbeiten: Weder wäre der Fachkräftemangel gelöst noch die Wirtschaft gerettet.
Die Lüge, die bleibt
Die bittere Wahrheit: Selbst wenn alle Geflüchteten sofort integriert wären, alle Bürgergeldbeziehenden uneingeschränkt arbeiten könnten – es bliebe ein massiver Überschuss an Menschen ohne Stelle.
Die CDU dreht den Spieß um: Nicht das System ist das Problem, sondern der Mensch. Nicht fehlende Stellen, sondern vermeintliche Faulheit. Nicht strukturelle Hürden, sondern eine angebliche „soziale Hängematte“.
Das ist keine Politik. Das ist bewusste Täuschung.
Der eigentliche Skandal
Die eigentliche Frage lautet: Warum funktioniert unser System so schlecht, dass Millionen arbeiten wollen – aber nicht dürfen?
Statt in Bildung, Ausbildung und Integration zu investieren, schiebt man Betroffenen den schwarzen Peter zu. Statt Unternehmen in die Pflicht zu nehmen, ihre Fachkräfte selbst auszubilden, wird mit Stigmatisierungen Politik gemacht.
Wer Bürgergeldempfänger pauschal als faul bezeichnet, tritt nicht nach oben, sondern nach unten – auf Menschen, die ohnehin schon kämpfen.
Es ist höchste Zeit, diese Lüge zu beenden. Mit Fakten. Mit Haltung. Und mit einer ehrlichen Politik.
Quellen (Stand September 2025)
- Bundesagentur für Arbeit, Statistik „Arbeitslosigkeit & gemeldete Stellen“
- Deutschlandfunk, „Bürgergeld: Vorurteile und Fakten“
- Süddeutsche Zeitung / Südwest-Presse, „Wie viele Menschen beziehen Bürgergeld?“
- IAB-Forum, „Arbeitskräftebedarf 2025“
- Welt, „Sanktionen bei Bürgergeld – Zahlen und Hintergründe“